Eine leere Bühne. In der Mitte zwei Frauen, sie sitzen nebeneinander auf zwei Hockern. Ein Griff ins Haar, eine Bewegung der Arme, ein Klatschen auf die Beine. Das ist alles, was in den folgenden zwölf Minuten passiert. Doch aus der Wiederholung dieser kleinen Handlungen entwickelt sich eine ungeheure Spannung. Mal gleichzeitig, mal versetzt, mal schneller, mal langsamer führen die beiden Tänzerinnen ihre Bewegungen aus, sodass sie im Zusammenspiel für die Zuschauer*innen immer wieder neu, immer wieder anders wirken.
Fase heißt dieses Stück, mit dem die gerade mal 22 Jahre alte belgische Choreografin Anne Teresa De Keersmaeker 1982 die Aufmerksamkeit der Tanzwelt auf sich zieht. Vier Szenen mit vier verschiedenen Bewegungsabfolgen tanzen die beiden Frauen zur Musik von Steve Reich. Dass De Keersmaeker gerade diese Musik gewählt hat, ist kein Zufall. Denn Reichs Kompositionen bauen auf derselben Idee wie De Keersmaekers Choreografien auf: der Beschränkung auf wenige Töne beziehungsweise Bewegungen, die wiederholt und variiert werden. Minimal Music nennt sich diese Musikrichtung. Schon bald gilt die junge Belgierin als Minimalistin unter den Choreograf*innen. Für sie, die als Heranwachsende zunächst Musik- und nicht Tanzunterricht erhalten hatte, ist bei der Entwicklung von Choreografien daher die Struktur einer musikalischen Komposition, die Partitur besonders wichtig. Im zeitgenössischen Tanz ist diese Herangehensweise keine Selbstverständlichkeit. Während andere Choreograf*innen darum kämpfen, den Tanz aus der Abhängigkeit von der Musik oder sogar aus einer vermeintlichen Unterordnung zu befreien, bestehen für De Keersmaeker solche Hierarchien nicht. In manchen Kulturen, so die Choreografin, gibt es für Musik und Tanz nicht einmal unterschiedliche Wörter.
Da Reichs Musik der Denk- und Arbeitsweise der Choreografin nahesteht, wird sie in den folgenden Jahrzehnten immer wieder seine Kompositionen auf die Bühne bringen. Mit ihrer ein Jahr nach Fase gegründeten und zunächst nur mit Frauen besetzten Compagnie Rosas setzt De Keersmaeker die Suche nach neuen Formen fort und experimentiert damit. Jede Bewegung analysiert sie genau, um deren Grundstruktur und Möglichkeiten zu erkennen. Diese Bewegungsanalyse zeigt sich beispielsweise auch in den geometrischen Figuren, die De Keersmaeker mit Tape auf den Bühnenboden klebt. Derart in die Tanzfläche eingeschrieben, werden die Drehungen und Wege der Tänzer*innen zu Kreisen, Spiralen und anderen Formen. Work on Paper heißt die Ausstellung, in der diese auf den Boden gebrachten Muster 2015 unter anderem in Lausanne und in Brüssel als Zeichnungen öffentlich gezeigt werden.
Wie die Musik der Zeit, so verleiht für De Keersmaeker der Tanz dem Raum eine Struktur. Das Erstaunliche daran sei, sagt sie, dass aus der intensiven Beschäftigung mit Struktur schließlich Gefühl entstehe. Ihre Arbeiten – von den intimen Solos bis hin zu den großen Opernproduktionen – beweisen dies eindrücklich. Denn so systematisch oder mathematisch De Keersmaekers Zugang zum Tanz auch klingen mag, ihre Choreografien sind von berührender Anmut, erstaunlicher Leichtigkeit und ansteckender Emotionalität.
Als Mitbegründerin und Leiterin einer der wichtigsten europäischen Ausbildungszentren für Tanz und Performance, dem P.A.R.T.S. in Brüssel, gibt die belgische Choreografin seit 1995 ihre Ideen und Erfahrungen an kommende Generationen von Tänzer*innen- und Choreograf*innen weiter.