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Im Verlauf eines Tanzprojekts geraten Tanzvermittler*innen immer mal wieder in herausfordernde Situationen. Dazu haben wir in den Calypso-Materialien kurze persönliche Geschichten und Erfahrungen aus dem Unterrichtsalltag gesammelt, die euch in ähnlichen Situationen helfen können. Aus unserer Erfahrung lassen sich Schwierigkeiten und Konflikte besonders folgenden Themen zuordnen: Ängste und Irritationen, Agression, Anfangsphase, Verweigerung, Vielfalt, Vorurteile über Tanz und Zusammenarbeit. Ihr findet die Geschichten aus dem Alltag immer hier.

ÄNGSTE & IRRITATIONEN

Celine: Ich arbeite oft mit Partnerübungen, in denen die Schüler*innen sich gegenseitig berühren. Zunächst löst das bei vielen und besonders älteren Schüler*innen eine Abwehrhaltung aus, die mit Berührungsängsten zusammenhängt. Ich achte daher auf das Timing und führe die Übungen als etwas ganz Selbstverständliches erst ein, wenn ich die Schüler*innen schon besser kenne. Kommentare ignoriere ich. Wenn Neugierde und Aufregung die vorherrschenden Gefühle sind, klappt meist alles gut. Sobald ich aber merke, dass tiefere Ängste oder Schamgefühle im Spiel sind, reduziere ich die „Dosis“ und konzentriere mich in der Aufgabenstellung auf die Berührung unverfänglicher Körperteile wie zum Beispiel die Schulter.

Irina: Wenn ich den Schüler*innen Aufgaben stelle und sie sich gegenseitig ihre Ergebnisse zeigen, ermuntere ich diejenigen, die zuschauen, den anderen zu applaudieren. Schließlich braucht es Mut, um etwas von sich zu zeigen. Außerdem sollen die Schüler*innen verstehen, dass es sich in der künstlerischen Praxis nicht immer um richtig oder falsch dreht. Da können auch Ergebnisse begeistern, die der eigentlichen Aufgabenstellung nicht ganz entsprechen.

Nina: In einer Schule ging die Lehrerin mit einem Kind ins Sekretariat, das den Unterricht mehrmals massiv störte. Danach war richtig was los und es herrschte totales Chaos. Mit Rumschreien und Drohen war nichts zu machen. Um ihre Energien zu bündeln, habe ich Techno-Musik aufgelegt und die Schüler*innen schnelle Diagonalen rennen lassen. Da konnten sie sich abreagieren und für mich hat es sich plötzlich angefühlt, als würde ich auf der Energie der Schüler*innen surfen.

AGGRESSION

Ronaldo: Ich erlebe öfters mal aggressives Verhalten im Unterricht, liegt an dem Kiez. Als Erstes frage ich mich dann immer: Was steckt dahinter? Angst? Frustration? Oder bewusste Manipulation, die mich einschüchtern soll? So oder so setze ich klare Grenzen, Beleidigung und körperliche Gewalt, das geht nicht. Aber wenn die Schüler*innen bloß ängstlich oder frustriert sind, weil sie im Unterricht etwas nicht hinbekommen, kann man versuchen, der Aggression Raum zu geben, um die Emotionen dahinter zum Ausdruck zu bringen. Wenn die Schüler*innen mich aber provozieren wollen, versuche ich das aggressive Verhalten zu entlarven und zu zeigen: „Damit kommst du bei mir nicht durch.“

Elisa: Letzte Proben vor den Aufführungen. Es herrschen Unruhe und ein extrem hoher Lärmpegel, den vor allem Yasin verursacht. Mein Teampartner gibt ihm eine klare Ansage, aber das bringt nichts, Yasin stört weiter. Er war schon mit 15 im Knast und ist immer wieder in Revierkämpfe zwischen unterschiedlichen kleinkriminellen Banden verwickelt. Aber er liebt es zu tanzen. Wir machen eine Pause, ich spreche Yasin an: „Was ist los, warum das Theater?“, frage ich. Er sagt: „Ich bin aufgeregt, glaube ich. Aber ich bin nicht so wie ihr, du kennst mich. Wenn mich etwas nervt, drehe ich durch. Ich sehe dann rot und schlage zu, sag bitte David (mein Teampartner), dass er sich etwas zurücknehmen soll, sonst passiert was Blödes…“ Es war keine Drohung, er wollte uns vor sich selbst warnen, das fand ich super. Ich habe mit David gesprochen, dann David noch kurz mit Yasin und alles war gut, die Premiere war toll.

Alessio: Oft spiele ich „führen“ und „blind folgen“. Einmal ist es vorgekommen, dass ein Kind ein anderes einfach gegen eine Wand laufen ließ. Ich wurde sehr wütend und das verantwortliche Kind löste sich in Tränen auf, als ich mit ihm schimpfte und dabei fast die Beherrschung verlor. Erst war es mir unangenehm, doch dann merkte ich, dass mein Verhalten für die anderen Kinder als Ausdruck meiner tiefen Erschütterung nachvollziehbar war.

Lisa: Wenn vor allem jüngere Kinder absolut nicht zur Ruhe kommen wollen, spiele ich manchmal die Verzweifelte und rufe: „Wenn ihr mir nicht zuhört, denke ich, es gibt mich nicht. Gibt es mich wirklich nicht? Kann mich jemand mal kurz anfassen und sagen, ob ich noch da bin?“ Das ist keine wirkliche Verzweiflung, aber bringt die Kinder zum Lachen - und manchmal auch zur Ruhe.

ANFANGSPHASE

Lina: Für mich sind die ersten drei bis vier Stunden ganz entscheidend. Wenn ich die Kids da nicht erreiche, habe ich so gut wie verloren. Deshalb habe ich immer einen Plan B und C in der Tasche. Ich versuche in dieser Phase die Klasse genau zu beobachten um ihre Sozialdynamik zu erfassen. Wer sind die Anführer*innen? Wen muss ich zuerst gewinnen und für das Projekt interessieren? 

Ulf: Am Anfang eines Projektes benutze ich Praxismaterial, das ich schon ausprobiert habe. Oft nehme ich Kontakt zu einzelnen Schüler*innen auf und versuche sie kennenzulernen. Dabei gebe ich auch etwas von mir selbst preis. Besonders in Schulen mit vielen Kids mit Migrationshintergrund erzähle ich gern von meinem „Wanderleben“ als Tänzer. Denn durch persönliche Geschichten kann Nähe entstehen.

Anna: Von Anfang an achte ich sehr darauf, Rituale und Regeln zu etablieren und mit allen am Projekt Beteiligten zu kommunizieren. Der Spaßfaktor ist mir genauso wichtig wie Aufgaben, die auf physischer Ebene herausfordern. Die Klasse soll vor allem Lust auf Tanz bekommen und neugierig werden.

Larissa: Nach einem ganzen Jahr Tanzunterricht in einer Klasse sah ich auf einmal ein Mädchen, das mir unbekannt vorkam und deren Name ich nicht wusste. Sie war aber schon von Anfang an dabei. Seitdem frage ich schon vor der ersten Stunde den oder die Klassenlehrer*in nach einem Klassenfoto und lerne so schnell wie möglich ihre Namen.

Nathan: Nachdem ich zum gefühlt zehnten Mal von Schüler*innen gehört habe: „Deine Musik ist ja voll Achtziger“, habe ich mir ihre Lieblingsmusiken mitbringen lassen. Die habe ich dann in meine Playlisten aufgenommen und die „1-Minuten Tänze“ eingeführt. Hierbei tanzen die Schüler*innen jeweils eine Minute zu zehn verschiedenen Musikstücken. Das war für mich ein guter Weg, sowohl mein als auch ihr musikalisches Repertoire zu erweitern.

VERWEIGERUNG

Jonas: Wenn ein Kind partout nicht tanzen will, überlege ich erst mal, wie ich es locken oder was ich verändern kann, damit es mitmacht. Manchmal muss ich eine Verweigerung einfach akzeptieren und biete eine projektnahe Alternative an, zum Beispiel Musik aussuchen oder die Stunde dokumentieren. Die Schüler*innen wollen dann oft von sich aus doch mitmachen.

Paula: Vor allem ist es wichtig, Antihaltungen im Unterricht nicht persönlich zu nehmen. Mit Verweigerern*innen suche ich oft nach dem Unterricht nochmals das Gespräch und versuche über andere Themen als das Tanzprojekt zu reden, um mein Interesse an ihnen zu zeigen. Manchmal komme ich so an sie heran, manchmal aber auch nicht. Immer alle erreichen ist unmöglich!

Ines: Als ich mal in einer Klasse mit älteren Schüler*innen arbeitete, die sich weigerten, sich gegenseitig zu berühren, meinte die Klassenlehrerin zu mir, ich solle es einfach respektieren - als eine Übergangsphase im Leben dieser jungen Menschen, denen Berührungen einfach peinlich sind. Das entsprach erst mal gar nicht meinen Vorstellungen – aber inzwischen empfinde ich es als befreiend, meine Ideen nicht immer durchsetzen zu müssen, sondern Wege zu finden, mit den Berührungsängsten der Schüler*innen kreativ umzugehen oder sie vorerst einfach hinzunehmen.

Rabea: Ich hatte mal eine Klasse in einem Förderzentrum, mit der ich sehr gerne arbeitete. Dennoch gab es Tage, an denen nichts lief. Als ich einmal nicht mehr weiterwusste, sagte ich der Klasse, dass ich in einen anderen Raum gehen und nicht zurückkommen würde, bevor Ruhe herrscht. Die Lehrerin war einverstanden, blieb in der Klasse, machte aber sonst keine Ansage. Die Schüler*innen diskutierten heftig untereinander, wie sie es schaffen könnten, zur Ruhe zu kommen. Nachdem sie es unter sich geklärt hatten, haben sie mich abgeholt und wir konnten gut weiterarbeiten.

VIELFALT

Giuseppe: In einer Inklusionsschule lernte ich Emmy kennen. Sie sitzt im Rollstuhl und hat eine spastische Lähmung. Sie ist aber helle im Kopf und bekommt alles mit. Ihre Beeinträchtigung habe ich als Herausforderung angenommen und mir überlegt, wie ich Übungen und Aufgaben so anpassen kann, dass auch sie vom Unterricht profitiert. Das hat oft geklappt und Emmy hat dann vor Freude laut gekichert. Wenn sie sich jedoch ausgeschlossen gefühlt hat, konnte sie richtig rumzicken. So wie alle anderen auch.

Als Inspiration: http://www.candoco.co.uk/.

Thomas: Ich habe mich etwas auf Schulen in sozialen Brennpunkten in Berlin spezialisiert. Da hilft es, wenn ich früh herausfinde, wer die Klasse dominiert. Zu dem oder zu der versuche ich dann gleich eine Beziehung aufzubauen. Stelle Fragen oder mache Smalltalk vor und nach der Stunde. Wenn es gut läuft, lass ich ihn oder sie auch Bewegungen vormachen. Wenn dann der Funke übergesprungen ist, bin ich für den Rest zuversichtlich.

Anna: Ein Junge kam immer zu spät, hatte richtig schlechte Laune, saß lustlos in der Ecke und tanzte nicht mit. Durch die Lehrerin erfuhr ich, dass seine Mutter es einfach nicht schaffte, ihn rechtzeitig zu wecken, Frühstück zu machen und ihn pünktlich in die Schule zu schicken. Da erzählte ich der Klasse von meiner chronischen Unpünktlichkeit und dem Ärger, den ich mir dadurch immer wieder einhandelte, weshalb ich wahnsinnig gern ein Stück über das Immer-zu-spät-Kommen machen würde. Der Junge war danach wie ausgewechselt – allein durch den Gedanken, dass man ALLES tanzen kann, sogar seine persönlichen Schwierigkeiten.

Georg: Ein Mädchen aus einer siebten Klasse schafft etwas ganz Besonderes, sie bewegt sich, ohne sich zu bewegen. Zwar macht sie die Bewegungsformen nach, investiert aber so wenig Energie, dass man die Bewegungen fast nicht erkennt. Ihre Augen wandern unkonzentriert umher, als wäre sie ganz woanders. Ich treffe mit ihr eine Sondervereinbarung und sie darf, wann sie will, eine kurze Pause machen. Dafür soll sie versuchen, etwas mehr Energie für die Übungen einzusetzen. Mit der Zeit werden die Pausen seltener und die Bewegungen immer deutlicher.

Irene: Da gab es ein Mädchen, deren Namen ich in der zweiten Hälfte des Projekts immer noch nicht wusste. Heng-lih war klein und schmal und fiel weder positiv noch negativ auf. Um sie aus ihrer Unsichtbarkeit herauszuholen, habe ich sie die Bewegungen der Klasse mit ihren Gesten dirigieren lassen, wie ein Dirigent sein Orchester. Das war am Anfang schwierig für sie und ich musste ihr Mut machen, damit sie sich durchsetzt. Aber in der abschließenden Aufführung hat dann alles gut funktioniert.

VORURTEILE ÜBER TANZ

Helge: In Schulklassen mit älteren Schüler*innen kommt von einigen Jungs häufig der Spruch: „Tanzen ist Ballett und sowieso nur was für Mädchen.“ Dem versuche ich mit körperlichem Können zu begegnen und zeige vor dem Beginn jeder Stunde ein paar Tricks. So was wie Handstand oder Delphin, und die sehen dann: Hoppla, der trägt weder Tutu noch Spitzenschuh und kann Sachen, die ich cool finde und gern lernen würde

Sven: Manchmal kommen Sprüche wie tanzen sei schwul, uncool und nichts für Männer. Ich zeige dann den Film über Safet. Das ist ein muslimischer Roma, der an der Folkwang Schule in Essen zeitgenössischen Tanz studiert hat. Er hat als Breakdancer angefangen und kann sich toll bewegen. Seine Brüder haben ihn erst verspottet und gesagt: „Tanz ist nichts für Männer“, aber dann wurde er durch seine Familie sogar unterstützt. Der Film ist ein gutes Beispiel, wie man Vorurteile relativieren und Neugierde wecken kann.

Florian: In einer Klasse mit einem hohen Anteil palästinensischer Schüler*innen habe ich für ein Stück einmal ein religiöses Lied mit hebräischem Text benutzt, einfach weil ich die Musik sehr mochte. Ich war darauf gefasst, dass das einen Aufstand provozieren würde. Aber das war gar nicht der Fall, die Klasse hat einfach mitgemacht. Manchmal haben wir selbst Vorurteile, was die vermeintlichen Vorurteile anderer angeht.

ZUSAMMENARBEIT

Uwe: Mit manchen Lehrer*innen stimmt sofort die Chemie und man kann gemeinsam loslegen. Mit anderen ist es eher mühsam. Da muss man sich erst zusammenraufen! Mir hilft die Erfahrung, dass jede*r gute Gründe für sein Handeln hat. Wie ich auch! Dann versuche ich nachgiebig zu sein und dem anderen Raum zu geben.

Carina: Die Klasse war schwierig, aber ich habe gedacht, das wird schon werden. Leider hat der Lehrer nicht mitgezogen. Im Nachhinein denke ich, dass ich ihn und sein Wissen über die Klasse von Anfang an stärker in das Projekt hätte einbeziehen sollen. Schließlich will jeder gesehen und gehört werden!

Anna: Oft habe ich Übungen erklärt und mich danach gewundert, wie wenig die Schüler*innen meine Erklärungen scheinbar verstanden hatten. Endlich hat mich dann mal eine Lehrerin darauf aufmerksam gemacht, dass ich viel zu schnell, zu viel und zu kompliziert rede und ich mich über ratlose Gesichter nicht zu wundern brauche. Von ihr habe ich gelernt, wie wichtig es ist, die Aufgabenstellungen klar und präzise zu formulieren.

Ute: Als Lehrerin habe ich manchmal das Chaos und den hohen Geräuschpegel während eines Tanzprojektes kaum ausgehalten. Die Tanzvermittlerin kommt nur für eine Doppelstunde pro Woche, aber ich bin jeden Tag in der Schule und muss den Lärm aushalten. Wir sind uns dann entgegengekommen: Sie integriert in ihren Unterricht immer wieder Momente, wo alle zur Ruhe kommen, und ich habe verstanden, dass Lautstärke und Chaos dazugehören können, um den Schüler*innen einen Freiraum für eigene Gestaltungen und Kreativität zu bieten.

Sofia: Ein Musiklehrer hatte mich gebeten, ihm meine persönliche Einschätzung der Schüler*innen schriftlich mitzuteilen, denn ihr Engagement im Tanzprojekt solle mit in seine Musiknote einfließen. Mir war das erst mal fremd, 26 Kinder einzeln wahrzunehmen und kurze Berichte über ihre Entwicklung zu schreiben. Inzwischen biete ich das Lehrer*innen sogar selbst an. Wenn eine Benotung denn schon sein muss, finde ich es wichtig, dass sie für die Schüler*innen transparent und nachvollziehbar ist.