Als der Choreograf Jérôme Bel im Jahr 2004 einen Stückauftrag vom legendären Ballett der Pariser Oper bekommt, fragt er nicht die großen Stars und die ganze Compagnie an, sondern nutzt den Auftrag, um mit einer einzigen Tänzerin aus der letzten Reihe zu arbeiten. Veronique Doisneau tanzt sonst als eine von vielen in der Gruppe, während die Stars mit großen Soli brillieren. Bei Bel steht sie auf einmal im Rampenlicht. Ganz allein ist Veronique Doisneau auf der großen Bühne und erzählt aus ihrem Leben als Gruppentänzerin, von ihren Hoffnungen, ihrem Traum, selbst einmal eine große Partie tanzen zu dürfen. Sie zeigt, was sie für gewöhnlich in der Gruppe zu tun hat, und tanzt angedeutet Passagen aus den großen Soli, von denen sie träumt. Das Stück Veronique Doisneau ist typisch für Jérôme Bels Arbeitsweise, für seine Art, Fragen zu stellen und hinter die Kulissen zu schauen.
Der 1964 in Montpellier geborene Bel absolviert zunächst eine klassische Tanzausbildung und studierte am Centre national de la Danse contemporaine in Angers. Schon bald engagieren ihn die bekanntesten Choreograf*innen Frankreichs. Aber nach wenigen Jahren merkt er, dass ihn die Stücke, die er tanzt, nicht überzeugen. Er beginnt sich zu fragen, woran das liegt, und analysiert, was während der Aufführungen eigentlich passiert. Sein Fazit: Auf der Bühne würden bloß Illusionen inszeniert und die Zuschauer*innen mit der Virtuosität der Tänzer*innen beeindruckt. Die Stücke sollen erfolgreich sein, sich verkaufen. Aber eine Kunst, so sieht es Bel, die keinen Gegenentwurf zur realen Welt gestaltet, macht sich in einer Welt der Waren selbst zur Ware. Und das will Kunst doch genau nicht sein.
Jérôme Bel zieht aus seiner Erkenntnis radikale Konsequenzen. Er gibt sein Engagement auf und trainiert nicht mehr täglich, weil er in seinem auf Virtuosität getrimmten Tänzer-Körper keinen Sinn mehr erkennt. Stattdessen liest er viel, vor allem philosophische Schriften. 1994 kommt sein erstes eigenes Stück heraus: Nom donné par l’auteur, in dem Bel die Arbeitsbedingungen sowie die Voraussetzungen von Tanzproduktionen untersucht. Er bringt die Konzeptkunst in den zeitgenössischen Tanz, Aufführungen, bei denen Konzepte sowie Ideen und nicht die Ausführung eines Kunstwerks im Vordergrund stehen. In seinen Stücken findet auf der Bühne meist kein Tanz statt, stattdessen wird über Tanzkunst nachgedacht wie in dem Solo Veronique Doisneau, das sich unmittelbar mit den Arbeits- und Produktionsbedingungen im Ballett beschäftigt. Oder wenn in Gala Laien ihre Tanzträume vorstellen, erscheint das Streben nach Virtuosität in einem anderen Licht.
Bel führt vor, wie auf der Bühne Bedeutung hergestellt wird, und hält damit der Kunst und der Gesellschaft einen Spiegel vor. Hinter seinen Choreografien stecken viele theoretische Überlegungen. Aber so, wie Bel sie umsetzt, wirkt es gleichzeitig einfach und direkt, oft absurd komisch und doch sehr berührend.
Mit diesen radikalen Infragestellungen hat Bel nicht nur seine Tänzer*innen und sein Publikum bewegt. Auch viele Kolleg*innen haben seine Vorstellungen vom Konzepttanz für sich übernommen und arbeiten nach Bels Vorbild.