Von Jeroen Versteele
Die Amerikanerin Meg Stuart ist zweifelsohne eine der interessantesten und provokativsten Podiumskünstler unserer Zeit. Ihre Brüsseler Kompanie Damaged Goods ist bereits seit mehr als zwanzig Jahren eine kleine, flexible Struktur, in deren Rahmen sie mit Performern, Musikern, bildenden Künstlern und Dramaturgen zusammenarbeitet. Während viele andere erfolgreiche Regisseure und Choreografen ihrer Generation große Häuser und Ensembles leiten, hat Meg Stuart den Weg der Freiheit und der künstlerischen Autonomie gewählt. Jedes Projekt beginnt mit etwas, was sie bewegt – und das kann ruhig wörtlich genommen werden. Wie beeinflusst die Welt den Körper? Wie verhält sich der Mensch, wenn er mit seinen Erinnerungen und Bedürfnissen konfrontiert wird? Was sind mögliche Berührungsformen? Was können wir miteinander teilen? Wie entsteht Intimität und wie werden Grenzen überschritten? Welche sozialen Rituale haben wir uns angeeignet, um miteinander in Kontakt zu treten? Das sind nur einige Fragen, auf die Stuarts Produktionen zwar keine Antwort geben, für die sich jedoch immer wieder aufs Neue faszinierende und physische Bilder finden lassen.
„Der Körper ist ein Mysterium“, bemerkte Meg Stuart bei den Proben zu ihrer Produktion UNTIL OUR HEARTS STOP (2015), bei der ich als Dramaturg mitarbeitete. „Wenn man eine Behandlung oder eine Massage bekommt und dabei an der falschen Stelle berührt wird, dann fängt man manchmal an zu jammern oder zu schreien. Der Körper sammelt Erinnerungen, und wir wissen nicht immer, was genau darin gespeichert wird und wie mögliche Reaktionen abgerufen werden. Ich bin davon überzeugt, dass der Körper sich selbst heilen kann. Die Menschen können sich von einschneidenden Erlebnissen wieder erholen. Es ist möglich, sich selbst wieder in die Welt einzugliedern. Wir sind soziale Tiere, und wir brauchen den menschlichen Kontakt. Wir brauchen konstruierte Spielformen. Wir möchten Zeuge sozialer Interaktion sein. Das hält uns lebendig und wirkt auf uns erhebend. Manchmal sind wir nicht bereit, etwas Verrücktes zu tun oder kreativ zu sein. Oftmals liegt nicht genug Vertrauen in der Luft. Unser soziales Verhalten wird durch Gewohnheiten und Angst bestimmt. […] Ich würde es manchmal gerne sehen, dass sich die Menschen gegenseitig anders verhielten, auch Unbekannten gegenüber.“
Meg Stuarts eigensinnige, intuitive Arbeitsweise bringt Stücke hervor, die alle eng miteinander verbunden sind, einer organischen Logik folgen und gleichzeitig doch sehr unterschiedlich voneinander sind. Die Probephasen dauern manchmal viele Monate und erlauben tiefgreifende Analysen und zahlreiche Umwege. Gastredner, Masseure, Yogalehrer und befreundete Künstler nähren und hinterfragen den Prozess, bei den wöchentlichen Probevorstellungen wird das viele Material, das während der langen Improvisationssessions entsteht, rekapituliert und geordnet. […]
Bei jeder neuen Produktion tut sich eine neue Welt auf. In den letzten sechs, sieben Jahren produzierte Meg Stuart unter anderem ein Werk voller faszinierender, kollektiver Energie (VIOLET, 2011), ein herzzerreißendes Solo im Regen (BLESSED, 2007), eine theatralische Zeitreise durch die Geschichte der westlichen Musik (Built to Last, 2012), ein abstraktes Duett im Museum (the fault lines, 2010) sowie einen farbenreichen Besuch eines Künstlerateliers voller Exzesse und großer Gefühle (Sketches/Notebook, 2013). Doch im Mittelpunkt steht stets die Faszination für den menschlichen Körper mit all seinen Darbietungs- und Verhüllungsversuchen.