„Mach die Pose größer!“, weist Ohad Naharin seine Tänzerin an. Die Frau verändert daraufhin ihre Haltung. „Nein, beweg dich nicht. Mach sie größer!“ Das Tanzverständnis des israelischen Choreografen ist so revolutionär, dass es manchmal schwerfällt, ihn zu verstehen. Betrachtet man aber, wie er selbst zum Tänzer wurde, scheinen seine Ideen absolut folgerichtig.
Weil für ihn körperliche Aktivität mit körperlichem Vergnügen gleichzusetzen ist, tanzt Ohad Naharin schon als Kind ständig. Dass man dies auch beruflich tun kann, liegt jedoch außerhalb seiner Vorstellung. Auf Initiative seiner Mutter beginnt er schließlich doch eine Tanzausbildung, obwohl er mit seinen 22 Jahren eigentlich zu alt dafür ist. Doch das Besondere an seiner Art zu tanzen fällt auf und berührt selbst erfahrene Fachleute. Ohad Naharin erhält ein Engagement bei der Batsheva Dance Company in Tel Aviv. Dort sieht ihn die amerikanische Choreografin Martha Graham und holt ihn nach New York. Doch die Zusammenarbeit wird schon bald zur Enttäuschung und Ohad Naharin wechselt zu Maurice Béjarts Ensemble. Für andere Tänzer*innen wäre die Arbeit mit diesen berühmten Choreograf*innen der Gipfel ihrer Karriere, doch für Ohad Naharin wird die Zeit bei Béjart zum Fiasko. Er kann nicht tanzen, weil er nichts spürt, und empfindet die Arbeit als unbefriedigend.
Den gescheiterten Engagements folgen erste eigene Choreografien. Ohad Naharins Tänzer*innen sollen – anders als er selbst es so schmerzhaft erfahren hat – eins sein mit dem, was sie tun. Eine verstärkte Pose ergibt sich für Ohad Naharin nicht aus äußerer Bewegung, sondern durch eine starke innere Haltung und das Bewusstsein für Impulse, für den eigenen Körper und die zu erzählende Geschichte. Für Tänzer*innen ist dies eine vollkommen neue Arbeitsweise. Ohad Naharin, inzwischen nach Israel zurückgekehrt und Leiter der Batsheva Dance Company, entwickelt eine komplexe Körper- und Bewegungssprache, die er „Gaga“ nennt. Selbst berufsbedingte Verletzungen und Einschränkungen der Tänzer*innen bezieht er in diese Sprache mit ein.
Ein zentrales Element im Gaga ist die Schwerkraft. Sobald die Anspannung den Körper verlässt, er in sich zusammensackt und zu Boden sinkt, ergibt sich ein komplexes Bewegungsspiel, das einerseits die Schwerkraft nutzt und sie zugleich zu überwinden sucht. Die Bewegungssprache von Ohad Naharins Choreografien beeindruckt durch eine große Leichtigkeit, die die Bewegungen der Tänzer*innen wie selbstverständlich erscheinen lässt.
Ohad Naharin hat mit seinem Gaga-Stil ganz neue Bewegungsqualitäten in den zeitgenössischen Tanz gebracht. Grundlage seiner Philosophie ist die frühe persönliche Erfahrung, wie viel Spaß Bewegung macht. Daraus leitet er eine ursprüngliche Bewegungsfreude ab, die allen Menschen gemein ist und eine heilende Kraft entfalten kann. Sein besonderes Anliegen besteht darin, diese Kraft in den Alltag zurückzuführen.
Denn gemeinsames Tanzen, so seine Überzeugung, verändert die Haltung zu sich selbst, zu den Mitmenschen, zum Leben und zur Welt. Diese Erfahrung gibt er in öffentlichen Workshops an junge und alte, gesunde und kranke, im Tanz erfahrene wie unerfahrene Menschen weiter. Wann immer er bei diesen Workshops mit Hunderten von Teilnehmenden gemeinsam tanzt, ist eine Kraft spürbar. Inzwischen hat sich Gaga als Körper- und Bewegungstraining auch über Tel Aviv hinaus verbreitet und wird an vielen Orten auf der Welt praktiziert.