Ein kleiner, halbkreisförmiger Kuppelraum. Zwischen eckigen Sandsteinsäulen liegen halbrunde Nischen. Darin bewegen sich zwei Tänzer und eine Tänzerin an den Wänden nach oben, indem sie sich seitlich und an den Ziegeln des Mauerwerks abstützen. Ihre schwarze Kleidung hebt sich vom hellen Raum ab. Die drei sind Teil eines siebzigköpfigen Ensembles aus Musiker*innen, Sänger*innen und Tänzer*innen, mit denen Sasha Waltz 2009 die Wiedereröffnung des Neuen Museums in Berlin feiert. Körper in Bewegung erkunden und vermessen den Bau aus dem 19. Jahrhundert, der im Krieg zerstört und vom britischen Stararchitekten David Chipperfield wiederaufgebaut und neugestaltet wurde.
Über die Jahre setzt Sasha Waltz eine ganze Reihe beeindruckender Architekturen in Szene – angefangen beim Jüdischen Museum von Daniel Libeskind in Berlin, über Zaha Hadids MAXXI, das Museum für zeitgenössische Kunst in Rom, bis hin zu Waltz‘ Performance Dialog in einem verlassenen Kolonialzeitpalast in Kalkutta. Auch die festen Spielstätten ihrer 1993 gegründeten Compagnie Sasha Waltz & Guests – zunächst die Sophiensæle, später die Schaubühne am Lehniner Platz und das Radialsystem V – haben eine jeweils ganz eigene Architekturgeschichte. Wie eine Kathedrale, so beschreibt Sasha Waltz, erscheine ihr die Weite und Größe der Schaubühne, deren Künstlerische Co-Leiterin sie von 1999 bis 2004 ist.
Mit ihren Arbeiten an der Schaubühne verändert sich auch die Ästhetik ihrer Werke. So vermessen in der Trilogie Körper fast nackte Tänzer*innen mit ihren Körpern den riesigen, von kahlen Betonwänden umschlossenen Raum. Übereinandergestapelt, im Dreieck liegend oder mit langen Stäben, die an Insektenfühler erinnern, wirken die Körper in diesen Anordnungen zugleich klein und verletzbar wie auch wehrhaft und groß. Diese zeitlosen puristischen Choreografien, die sich auch in Waltz’ internationalen Operninszenierungen wiederfinden, lösen die schrillen, slapstickartigen Arbeiten ihrer künstlerischen Anfänge ab. Jene Tür-auf-Tür-zu-Szenen, das gemusterte Sofa und die bunten Kostüme, mit denen sie beispielsweise 1996 in Allee der Kosmonauten den charmant verfallenen Spielort Sophiensæle eroberte.
Allee der Kosmonauten ist eine Geschichte, in der es um drei Generationen in einer Plattenbausiedlung geht. Sie behandelt ein für Sasha Waltz wichtiges Thema: die Familie. Als Familie kann man auch ihre Compagnie betrachten, in der noch heute Tänzer*innen aus den Anfangsjahren mit dabei sind. Auch Waltz‘ eigene Familie ist immer an ihren Produktionen beteiligt. Ihr Mann Jochen Sandig arbeitet (neben vielen anderen Funktionen) als Geschäftsführer der Compagnie, ihre Schwester Yoreme als Dramaturgin und die Kinder Sophia und László tanzen in verschiedenen Inszenierungen mit. Die Eltern – der Vater Architekt, die Mutter Galeristin – sind zwar in den Werkprozess nicht unmittelbar einbezogen, aber auch sie integriert Sasha Waltz‘ in ihre Arbeit. In ihrem Stück insideout sind Jugendbilder ihrer Eltern an eine Holzwand geheftet. Zwischen den Fotos strecken sich von hinten Hände und Arme durch Löcher in der Holzwand, die eine Tänzerin tragen, sie halten und in ihrer Bewegung lenken: ein starkes und doppelsinniges Bild für Familie.
Derart eindrückliche Bilder stechen immer wieder aus Sasha Waltz’ Inszenierungen hervor. Da sind zum Beispiel die zwei Tänzerinnen, die zum einem Wesen mit verdrehtem Unterleib verschmelzen, oder Körper, die in Kokons aus Haaren, Stäben und wolkenartigen Skulpturen eingesponnenen sind, oder jene Tänzerin, die in einem riesigen weißen Luftkissen versinkt und hinfort gerissen wird. Es erscheint daher nur folgerichtig, dass das Zentrum für Kunst und Medien (ZKM) in Sasha Waltz‘ Geburtsstadt Karlsruhe seit 2013 Fragmente ihrer Arbeiten als Installationen und Performances zeigt. In Berlin, ihrer künstlerischen Heimat, übernimmt Sasha Waltz 2019 die Co-Intendanz des Staatsballetts.